Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) normiert einen breiten Kanon unterschiedlicher Aufgaben- und Handlungsfelder, die im Sinne der Einheit der Kinder- und Jugendhilfe vielfältig ineinandergreifen (sollen).
Das SGB VIII ist einerseits als Leistungsgesetz konzipiert, in dem personenbezogene sozialpädagogische Dienstleistungen normiert werden; andererseits enthält es hoheitliche Aufgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen von entsprechenden Eingriffsbefugnissen und -verpflichtungen erfüllt werden müssen [vgl. Aufgabenfelder der Kinder- und Jugendhilfe (§§ 11- 60 SGB VIII)].
Das Spektrum aller Angebote und Maßnahmen spricht verschiedene Ebenen des Handlungsauftrags der Kinder- und Jugendhilfe an:
- Zunächst geht es um die Aufgabe allgemeiner Förderung von Bildung und Erziehung von jungen Menschen. Die in diesem Kontext erbrachten Angebote und Leistungen richten sich grundsätzlich an alle Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen und zum Teil an ihre Eltern. Beispiele für solche zumeist selbstverständlich erwarteten und in Anspruch genommenen Jugendhilfeleistungen sind Kindertageseinrichtung und Kindertagespflege, Jugendarbeit und Jugendbildungsarbeit und Eltern- und Familienbildung. Diese Angebote sind zentrale Bestandteile einer allgemein fördernden Kinder- und Jugendhilfe-Infrastruktur.
- In einer zweiten Dimension geht es um spezifische Unterstützungsangebote für Menschen in belastenden Lebenslagen. Angebote für Eltern in Trennungs- und Scheidungssituationen, für alleinerziehende Eltern oder für sozial oder individuell benachteiligte junge Menschen mit Schwierigkeiten im Übergang von der Schule in den Beruf sollen dazu beitragen, möglichen Problemlagen schon bei ihrer Entstehung wirkungsvoll entgegentreten zu können. Auch die im letzten Jahrzehnt aufgebaute interdisziplinäre durch die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen gekennzeichnete Infrastruktur der sog. Frühen Hilfen ist solchen Angebotsformen zuzurechnen.
- Auf einer dritten Ebene normiert das SGB VIII spezielle Angebote der Hilfe und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die aufgrund
- unzureichender Erziehungsleistungen der Eltern,
- individueller krisenhafter Entwicklungen,
- behinderungsbedingter Teilhabeeinschränkungen oder
- unausgereifter Persönlichkeitsentwicklung (bei jungen Volljährigen)
Unterstützung benötigen. Diese Angebote sind mit individuellen Rechtsansprüchen gekoppelt und richten sich auf konkrete Hilfebedarfe, die durch eine allgemein fördernde und entlastende Infrastruktur (allein) nicht mehr aufgefangen werden können und die einer speziellen individuellen Hilfeplanung und Intervention bedürfen. Zu solchen Hilfeformen gehören
- die Hilfen zur Erziehung,
- die Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie
- die Hilfen für junge Volljährige.
Sie umfassen ein breites Spektrum von ambulanten Hilfen unterschiedlichster Intensität bis hin zur Schaffung alternativer Lebensorte für Kinder und Jugendliche in Heimen oder Pflegefamilien. - Schließlich wird die Kinder- und Jugendhilfe von sich aus tätig, wenn es darum geht, den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen, wenn Eltern dies selbst nicht gewährleisten können (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung). Es handelt sich hierbei um hoheitliche Aufgaben, die unabhängig vom Willen der Adressaten*innen, nicht aber ohne deren Beteiligung, vom Jugendamt wahrgenommen werden. Hoheitliche Aufgaben umfassen aber nicht nur die unmittelbare Gefahrenabwehr (z. B. Inobhutnahme), sondern auch die Mitwirkung in strittigen Familiengerichtsverfahren oder jugendgerichtlichen Strafverfahren. Hier kommt die öffentliche Jugendhilfe ihrem „staatlichen Wächteramt“ nach. Inhaltlich dienen diese hoheitlichen Aufgaben der Sicherstellung der Sorge und Fürsorge für Kinder und Jugendliche.
Im Sinne der Einheit der Kinder- und Jugendhilfe müssen Fachkräfte das Gesamtfeld der Kinder- und Jugendhilfe im Blick haben und über die Breite bestehender Handlungsaufträge und Handlungsmöglichkeiten Bescheid wissen. Es reicht nicht, sich unter Ausblendung der anderen Leistungsbereiche nur über sein eigenes Aufgabenfeld zu definieren. Eine solche abgeschottete, „versäulte“ Sichtweise liefe der Intention und dem Grundverständnis der Einheit der Kinder- Jugendhilfe zuwider. Die Fachkräfte haben bei allen Spezifika ihres eigenen Handlungsfeldes immer dessen Stellenwert im Gesamtfeld der Kinder- und Jugendhilfe im Auge zu behalten und Überschneidungen mit Handlungsaufträgen anderer Arbeitsbereiche in einem Gesamtverständnis von Kinder- und Jugendhilfe produktiv und kooperativ zu nutzen.
Insofern stellen sich alle genannten Aufgaben (Bilden, Erziehen, Beraten, Fördern, Unterstützen, Helfen und Schützen) in ihrer gesamten Breite in jedem einzelnen Handlungsfeld – wenn auch mit jeweils handlungsfeldspezifischer Gewichtung.
Literatur
- Böllert, Karin (Hrsg.) (2018): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe, Wiesbaden.
- Hansbauer, Peter/Merchel, Joachim/Schone, Reinhold (2020): Kinder- und Jugendhilfe – Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen, Stuttgart.
- Jordan, Erwin/Maykus, Stephan/Stuckstätte, Eva (2015): Kinder- und Jugendhilfe – Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen, 4. überarbeitete Auflage, Weinheim u. München.
- Münder, Johannes/Meysen, Thomas/Trenczek, Thomas (Hrsg.) (2022): Frankfurter Kommentar SGB VIII Kinder und Jugendhilfe, 9. Aufl., Baden-Baden.
- Schröer, Wolfgang/Struck, Norbert/Wolff, Mechthild (Hrsg.) (2016): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl., Weinheim u. München.
- Wiesner, Reinhard/Wapler, Friederike (2022): SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 6. Aufl., München.